Ich konnte es nicht vermeiden, eine Zivilsache vor dem Landgericht. Es ging um einen Verkehrsunfall, ich mußte in der Berufungsverhandlung die Anträge stellen.
Der Name der Richterin, der auf dem Kontaktbogen meiner Akte stand, kam mir irgendwoher bekannt vor. Aber der Reihe nach …
Wilhelm Brause, unser Mandant, überholte mit seiner S-Klasse den Polo von Mütterchen Mü. Just bei diesem Überholvorgang kam es zu seitlichen Berührung zwischen den beiden Fahrzeugen. Soweit der knappe Sachverhalt.
Wer nun „Schuld hat“ und wer was bezahlen muß, darüber gab es Streit. Und zwar gleich 6-fach!
Die beiden Bußgeldverfahren gegen Brause und Mü endeten mit einer Einstellung nach § 47 II OWiG für Brause und mit einer Verwarnung für das Mütterchen. Das ist jedoch nicht das Thema.
Zivilrechtlich wurde es spannend.
1. Mütterchen Mü gegen Wilhelm Brause
Mütterchen Mü verklagte Wilhelm Brause auf vollen Schadensersatz. In der ersten Instanz beim Amtsgericht bekam sie zu 100 % Recht. Dagegen wehrte sich Brause (bzw. sein Haftpflichtversicherer) mit einer Berufung. Das Urteil der ersten Instanz wurde bestätigt und die Berufung vom Landgericht verworfen. Der Schaden von Mü mußte also 100%ig von Brause bzw. seinem Versicherer reguliert werden.
2. Wilhelm Brause gegen Mü
Zwischenzeitlich hatte Brause allerdings auch schon Klage erhoben. Gegen Mü und ihren Versicherer. Allerdings hatte dieser vorher bereits schon 30 % des Schadens reguliert. Brause wollte aber noch die restlichen 70 %. Das Amtsgericht meinte aber, mehr als 50 % insgesamt gibt es nicht; also bekommt Brause vom Amtsrichter noch 20 % oben drauf. Das gefiel Mü und ihrem Versicherer aber nicht. Sie legten Berufung ein.
Über diese Berufung wurde nun verhandelt und ich war der Vertreter von Brause im Termin … mit der dunklen Ahnung, daß ich den Namen der Richterin kenne.
Das Rätsel löste eben diese Richterin: Sie sei diejenige, die auch schon in der anderen Sache, also in der Sache Mü gegen Brause das Berufungsurteil geschrieben habe.
Da mußte ich erst einmal schlucken. Geht denn das überhaupt? Als Strafverteidiger fällt mir sofort das Stichwort Befangenheit ein; aufgrund einer Vorbefassung mit der Sache könnte es berechtigte Bedenken an der Objektivität der Richterin geben. Vor dem Strafgericht hätte ich den Antrag mit der Überschrift „Ablehnungsgesuch“ wahrscheinlich gestellt.
Vor dem Zivilgericht scheint das aber etwas gaaaaanz anderes zu sein, erklärten mir der gegnerische Kollege und die Richterin in einem freundlichen Gespräch. Gerade weil die Richterin sich bereits mit dem Verkehrsunfall beschäftigt hat, sei sie besonders qualifiziert, ihn zu bearbeiten. Aha!
Im übrigen sei diese Konstellation gar nicht so selten. Denn die Fälle, die im Gericht ankommen, werden nach einem Rotationsprinzip auf die Abteilungen und Kammern verteilt. Und wenn es der Zufall will, stehen sich die Parteien in umgekehrter Konstellation beim selben Richter zweimal gegenüber. In Berlin soll dies mit einer Wahrscheinlichkeit von 11:1 passieren.
Die Entscheidung? Erwartungsgemäß: Der Berufung von Mütterchen Mü wurde stattgeben und das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben. Mein Mandant solle sich doch mit den 30 % zufrieden geben, das sei mehr, als ihm zustünde, gab mir die Richterin noch mit auf den Weg.
Um sowas zu verstehen, muß man, glaube ich, zwei juristische Staatsexamen bestanden haben. Ein normaler Mensch kapiert das garantiert nicht.