Deniz Yücel vs. Türkei vor dem EGMR

Medienberichten zufolge hat der in der Türkei inhaftierte Journalist Deniz Yücel Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erhoben.

Yücel sitzt seit Februar 2017 in Untersuchungshaft; ihm wird vorgeworfen, Terrorpropaganda und Volksverhetzung betrieben zu haben.

Sein Verteidiger, Rechtsanwalt Ok, teilte den Medien mit, die Beschwerde werde …

… von seinem Gegenstand her unter die Fälle gerechnet, die vom Gericht vorrangig behandelt werden und als solche in kürzest möglicher Zeit untersucht werden sollen.

Ich (aka: leidenschaftlicher Berufsoptimist) möchte an dieser Stelle vor zuviel unberechtigtem Optimismus warnen. Denn die Hürden für die Zulässigkeit einer solchen Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK) sind nicht ohne, auch wenn Art. 35 Abs. 1 EMRK auf den ersten Blick einen recht überschaubaren Eindruck macht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte …

… kann sich mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe […] befassen.

Mir sind die Rechtsbehelfe im türkischen Haftverfahren nicht bekannt. In der deutschen StPO gibt es beispielsweise die mündliche Haftprüfung, die Haftbeschwerde, die weitere Beschwerde und schließlich noch die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde. Vergleichbares dürfte auch in der Türkei geregelt sein.

Optimismus-Dämpfer Nr. 1
Deniz Yücel ist seit etwas mehr als 100 Tagen inhaftiert. Innerhalb einer solchen Zeitspanne das Haftverfahren und anschließend auch noch das Eilverfahren einer Verfassungsbeschwerde zu durchlaufen, ist schon in Deutschland ein Job für Fortgeschrittene.

Soweit mir bekannt ist, betreibt die türkische Justiz an allen möglichen Ecken das Gegenteil dessen, was man als Verfahrensbeschleunigung bezeichnen könnte. Will sagen: Diese sogenannte „Subsidiarität der Menschenrechtsbeschwerde“ nutzen die türkischen Justiziellen, um den Weg nach Straßburg mit reichlich Steinen zu versehen.

Die türkische Kollegin Fethiye Cetin berichtete auf der diesjährigen Mitgliederversammlung der Vereinigung Berliner Strafverteidiger unter vielem anderen von der Installation eines Bollwerks gegen Klagen zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Deswegen schließe ich allein aus dem Zeitablauf auf Probleme bei der Zulässigkeit der Beschwerde.

Optimismus-Dämpfer Nr. 2
Wer sich hier in Deutschland einmal näher mit den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer (deutschen) Verfassungsbeschwerde beschäftigt hat, weiß, welche ungeschriebenen Schwierigkeiten dieses auch dort geltende Subsidiaritätsprinzip (§ 90 Absatz II 1 BVerfGG) macht.

Der Rechtsweg ist nicht erst dann erschöpft, wenn alle formellen Rechtsbehelfe genutzt worden sind. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich allerlei informelle Rechtsbehelfe ausgedacht, um nicht zu früh in die Rechtsprechungskompetenz der ordentlichen Gerichte eingreifen zu müssen (und das ist auch gut so, wie ich meine).

Was sind nun diese informellen Rechtsbehelfe?
Das deutsche, teilweise ungeschriebene Prozeßrecht bietet da u.a. die Dienst-/Fachaufsichtsbeschwerde, Untätigkeitsbeschwerde, Gegenvorstellung, Anträge an die Staatsanwaltschaft und/oder das Gericht auf Einstellung des Verfahrens nach §§ 153, 153a, 154 und/oder 154a StPO … usw.. Es würde mich echt überraschen, wenn den türkischen Rechtsverdrehern ;-) nicht Vergleichbares eingefallen wäre.

Chancenlos?
Wir Juristen, besonders die Strafjuristen, haben es gelernt, so zu argumentieren, daß jedes(!) gewünschte Ergebnis als gesetzeskonform durchgeht. Auch und gerade in den Verfahrensvorschriften verlangen viele sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe eine Interpretation. Und das genau sind die Spielräume, innerhalb der sich nun auch die Richter beim EGMR bewegen werden.

Sind sie – wie ich – der Ansicht, daß Yücel „nur seinen Job“ als Journalist gemacht hat, als er über den Kurdenkonflikt und den Putschversuch vom Juli 2016 berichtete, und deswegen dafür nicht bestraft werden darf, werden die Richter seine Menschenrechtsbeschwerde als zulässig interpretieren. Wenn nicht, dann nicht. Ich bin gespannt, habe aber Hoffnung.

Nachwort:
Ich bin kein Verfassungs- oder Menschenrechtler, sondern Instanzverteidiger; Ergänzungen oder Korrekturen meiner Gedanken sind daher willkommen. Mit diesem Beitrag möchte ich gleichwohl auf die rechtliche Situation, in der sich Deniz Yücel befindet, aufmerksam machen, um damit zumindest für ein gewisses Verständnis des nun anstehenden Straßburger Verfahrens beizutragen.

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Bild: © Piratenpartei Deutschland

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4 Antworten auf Deniz Yücel vs. Türkei vor dem EGMR

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    Duncan says:

    Da ich nun schon mehrfach das Glück hatte mit ehem. wiss. Mitarbeitern am Verfassungsgericht, heute Professoren für Rechtswissenschaften und z.T. Landesverfassungsrichter zu tun hatte: Sie können jedes gewünschtes Ergebnis so begründen, dass es rechtskonform ist. Aber wie sieht der politische Druck aus? Was will die Politik der EU? Das sofortige Abziehen aller Botschafter der EU-Mitgliedstaaten aus der Türkei, Rückruf aller NATO-Truppen aus der Türkei sowie aller sonstigen EU-Truppen und Verhängung einer harten Visa-Beschränkung wären auch sofort juristisch korrekt begründbar – wäre auch eine Sprache die Erdogan direkt und ohne Übersetzer verstehen würde.

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    Ich bin etwas weniger skeptisch.

    Deniz Yücels Anwalt hat einen Brief bekommen, in dem er informiert wird, dass der Fall mit Priorität behandelt werde. Das ist schon einmal ein wichtiger Schritt.

    Der weit überwiegende Teil der Beschwerden, die beim EGMR eingehen, wird durch die Entscheidung eines Einzelrichters ohne individuelle Begründung zurückgewiesen. Eine gesonderte Eingangsbestätigung bekommen die Beschwerdeführer in diesen Fällen gar nicht erst.

    Wäre der Gerichtshof der Auffassung, dass die Beschwerde – sei es wegen fehlender Ausschöpfung des Rechtsweges, sei es aus anderen Gründen – ersichtlich unzulässig ist, hätte er diesen Weg wählen können. Diese Hürde hat die Beschwerde also offenbar schon einmal genommen.

    Ich glaube auch, dass es auch in der Türkei sicherlich viele ordentliche und informelle Rechtsbehelfe geben wird. Der EGMR verlangt aber nicht, dass man alle vorhandenen oder irgendwie in Betracht kommenden Rechtsmittel ausschöpft, sondern alle effektiven Rechtsmittel. Welche das sind, ist natürlich eine Frage des Einzelfalles. Der Gerichtshof hat aber bereits in vielen Fällen festgestellt, dass Beschwerdeführer neben dem „normalen Instanzenzug“ keine Dienstaufsichtsbeschwerden, Anträge auf Disziplinarverfahren, Beschwerden beim Ombudsmann u.ä. einlegen müssen, bevor sie eine Beschwerde beim EGMR einlegen können.

    Das Erfordernis der Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsmittel soll gewährleisten, dass der Staat die Möglichkeit hat, Fehler selbst zu korrigieren, bevor er sich vor einem internationalen Gericht verantworten muss. Umgekehrt soll der Staat aber nicht die Möglichkeit haben, sich der Verantwortung auf internationaler Ebene zu entziehen, indem er das Opfer möglicher Verletzungen der Konvention auf immer neue nationale Rechtsmittel verweist.

    Problematisch ist aus meiner Sicht eher, dass Herr Yücel nach Presseberichten offenbar am 29.März eine Beschwerde beim türkischen Verfassungsgericht eingelegt hat, über diese aber noch nicht entschieden ist.

    Hier stellt sich die Frage der Erschöpfung des Rechtsweges sicherlich. Der EGMR hat noch vor kurzem entschieden, dass die Beschwerde beim Verfassungsgericht trotz der derzeitigen Situation in der Türkei ein effektives Rechtsmittel sei. Allerdings ist es natürlich möglich, dass er diese Auffassung ändert oder modifiziert – oder zumindest einmal genauer wissen will, wie das Verfassungsgericht in der Türkei mit derartigen Fällen umgeht und das jetzt an der Beschwerde von Deniz Yücel festmacht.

    • Danke für die ausführlichen und ergänzenden Informationen über die europäische See. Drücken wir die Daumen … crh
  4. 4

    […] Zusammenhang mit der Beschwerde von Deniz Yücel hatte ich in einem Blogbeitrag vor übertriebenem Optimismus gewarnt. Und auf die Fallstricke hingewiesen, die das sogenannte […]