Ein paar Fragen zu „Amtsgericht-bestraft-Helfer“

595772_web_R_B_by_Rainer Sturm_pixelio.deIn den letzten Tagen war wieder einmal ein gehetztes Borstentier im medialen Dorf unterwegs.

Ich beziehe mich auf den Artikel von Tim Höhn in der Stuttgarter Zeitung (StZ) vom 12. März 2016. Der Journalist berichtet einigermaßen sicher über den Sachverhalt; seine Bewertung macht aber aus professioneller Sicht ein paar Anmerkungen notwendig.

Zunächst einmal:
Es geht hier nicht um Notwehr, sondern um Nothilfe. Aber das ist eigentlich nicht entscheidend.

Das dem Fall zugrunde liegende Problem ist ein Klassiker: Es stellt sich die Frage nach der „Gegenwärtigkeit“ des Angriffs. Diese Voraussetzung muß sowohl bei der Notwehr (§ 32 Abs.2 Var.1 StGB), als auch bei der Nothilfe (§ 32 Abs.2 Var.2 StGB) gegeben sein.

Nur wenn der rechtswidrige Angriff noch andauert, kann eine Notwehr-/Nothilfe-Tat gerechtfertigt und damit straflos sein.

Die Richterin stand also vor dem Problem, das Gewusel des Vorfalls auseinander dröseln zu müssen. Nach einer wohl umfangreichen (und – so wie es sich liest – nicht emotionslosen) Beweisaufnahme ist sie zu dem Ergebnis gekommen:

Es hat eine Zäsur stattgefunden.
Der eigentliche Angriff, bei dem der Angeklagte helfen wollte, war – für die Richterin – beendet. Damit dauerte – aus Sicht der Richterin – der Angriff nicht mehr an, er war nicht mehr gegenwärtig und damit lagen die Voraussetzungen des § 34 StGB nicht mehr vor. Aus die Maus.

All diejenigen, die jetzt darüber diskutieren, waren in der Gerichtsverhandlung nicht anwesend und konnten sich kein Bild von den (glaubhaften?) Aussagen der (glaubwürdigen?) Zeugen machen. Auch die notwendigen Aktenkenntnisse fehlen.

  • Sollte man sich dann nicht mit einer Bewertung dieser Entscheidung zurückhalten?

Und noch eine sehr schwierige Frage stellt sich:
Darf eine Richterin – die unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen ist, Art. 97 GG – sich von den gesellschaftlichen Folgen ihrer Entscheidung beeinflussen lassen? Das von diesem Urteil ausgehende Signal ist für einen couragierten Nothelfer ganz bestimmt nicht hilfreich.

  • Also lieber gegen das Gesetz entscheiden, wenn Volkes Seele sonst das Kochen anfängt?

Der Fall hat aber noch weitere Besonderheiten.
Die Staatsanwaltschaft hat Anklage erhoben und dem „Helfer“ darin eine gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Am Ende der Beweisaufnahme beantragt der Sitzungsvertreter der Anklagebehörde einen Freispruch. Das ist ganz sicher nicht die Regel. Tim Höhn beschreibt das Phänomen in seinem Artikel vom 11. Februar 2016 in der StZ so:

Dass ein Gericht eine Strafe verhängt, nachdem die Staatsanwaltschaft Freispruch gefordert hat, ist eine Seltenheit. Wie es überhaupt selten vorkommt, dass die Anklagebehörde sich derart weit von der Anklage distanziert – weil damit immer das Eingeständnis verbunden ist, dass bei den Ermittlungen Fehler gemacht wurden.

Das ist erstens richtig und zweitens falsch.
Der von der Staatsanwaltschaft beantragte Freispruch hat eher den Charakter einer totalen Sonnenfinsternis auf dem Kreuzberg; zutreffend, das kommt nur alle 375 Jahre mal vor.

Aber ein Fehlereingeständnis?
Nein, einfach nur eine am Gesetz (§ 160 Abs. 2 StPO) orientierte Entscheidung. Wenn sich vor Gericht der Verdacht(!), der der Anklage zugrunde liegt, in der Beweisaufnahme nicht bestätigt, muß auch der bissigste Terrier der Staatsanwaltschaft den Freispruch beantragen.

Darf die das?
Staatsanwaltschaft und Verteidigung haben den Freispruch beantragt. Darf die Richterin dann trotzdem verurteilen? Auch hier hilft der Blick ins Gesetz, und zwar in dasselbe, das einem Richter hilft, sich gegen das gesunde Volksempfinden zu stellen: Art. 97 Abs. 1 GG und § 261 StPO. Wäre auch noch schöner, wenn das Gericht nach der Pfeife der Staatsanwaltschaft tanzen müßte. ;-)

Schwer verständlich,
aber zulässig ist das Verhalten der Staatsanwaltschaft dann in der Woche nach dem Urteil. Obwohl der in der Beweisaufnahme anwesende Staatsanwalt den Freispruch wollte, legt seine Behörde – also derjenige, der auf der Hühnerleiter weiter oben sitzt – ein Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Und zwar mit dem Ziel, den Verurteilten noch härter zu bestrafen.

Auf den Punkt gebracht
Um eine solche Konstellation einem strafrechtlich unbedarften Mandanten zu verständlich zu machen, braucht ein Strafverteidiger Engelszungen:

  • Die Staatsanwaltschaft beantragt Freispruch,
  • das Gericht verurteilt dennoch wegen einer fahrlässigen Körperverletzung,
  • die Staatsanwaltschaft geht ins Rechtsmittel und
  • strebt die Verurteilung wegen vorsätzlicher gefährlicher Körperverletzung.

Also:
Das Verfahren vor dem Amtsgericht Ludwigsburg ist unter reichlich Gesichtspunkten eine hoch spannende Geschichte. Wenn da nur nicht ein Mensch beteiligt wäre, der deswegen bereits in Untersuchungshaft gesessen hat und dessen gesamte wirtschaftliche Existenz vom Ausgang dieses Strafverfahrens abhängt. Aber er muß eben Opfer bringen, damit die Strafjustiz auch in außergewöhnlichen Fällen ihre Funktionsfähigkeit unter Beweis stellen kann. Nicht wahr? Oder??

Conclusio

    Eingehüllt in feuchte Tücher,
    prüft man die Gesetzesbücher
    und ist alsobald im klaren:
    Strafrecht ist ganz schön verfahren.

Aber das bisschen Strafrecht macht man ja gern mal nebenher.

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Gedicht frei nach Christian Morgenstern .

Bild: © Rainer Sturm / pixelio.de

Besten Dank an Maximilian G. für den Anstupser zu diesem Beitrag.

Dieser Beitrag wurde unter Medien, Strafrecht veröffentlicht.

14 Antworten auf Ein paar Fragen zu „Amtsgericht-bestraft-Helfer“

  1. 1
    ich says:

    Herr Hönig, was für ein fauxpas! Waren da die Tipp-Finger schneller als der Kopf?
    Ihre Einstufung als Nothilfe ist zutreffend. Aber in diesem Zusammenhang § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) zu erwähnen anstatt richtiger Weise § 32 II Alt. 2, dürfte einem FA für Strafrecht, auch als Augenblicksversagen, eigentlich nicht passieren.

    • Vielen Dank für diesen nützlichen Hinweis. Wenn Sie jetzt noch auf die korrekte Schreibweise meines Namens achten könnten, dann bestehen Sie in ein paar Jahren auch Ihr erstes Examen. Viel Erfolg dabei! crh
  2. 2
    tapirat says:

    Spannend. Würden Sie bitte über den Ausgang der Verhandlung in der nächsten Instanz berichten?

    • Beobachten Sie die klassischen Medien aus der Region. Ich bin sicher, darüber wird berichtet. Oder bitten Sie den Journalisten, Sie zu informieren; er wird an der Sache dranbleiben. crh
  3. 3
    mm says:

    Die Verurteilung passte dem Dezernenten wohl nicht?

    • So wird es gewesen sein. Das ist ein bekanntes Phänomen: Der Abteilungsleiter entscheidet nach Aktenlage und pfeift auf die Eindrücke aus der Hauptverhandlung, die der untergeordnete Wasserträger der Anklagebehörde Sitzungsvertreter gewonnen hat. crh
  4. 4
    ich says:

    (zur Antwort Beitrag 1): sorry mit dem Namen, war keine Absicht. Und Danke für die guten Wünsche; 6 Mindestsemester dauerts noch :-)

  5. 5
    Airfix says:

    Vielen Dank für das verständliche aufdröseln eines für Laien schwer durchschaubaren Sachverhaltes.

  6. 6
    Andy says:

    Spannend. Gerade in der Zeit in der es vermutlich immer häufiger nötig wird / werden wird als Bürger Nothilfe zu leisten weil enthemmte Mitbürger mit gesteigerten Sorgen das „vermeintliche Recht“ selber in die Hand nehmen und den Frust an weitgehend Wehrlosen abarbeiten setzt der Staat ein Zeichen in dem die Zivilcourage deutlich in die Schranken gewiesen wird.

  7. 7
    Janosch says:

    Hallo Herr Hoenig,

    können Sie erklären/vermuten, weshalb der Mann in U-Haft kam?

    Den Artikel kann man so verstehen: da er den polizeilichen Vorladungen nicht nachkam, wurde er in U-Haft genommen.

    „Und einen Fehler hat er ganz sicher gemacht: Im Verlauf der Ermittlungen erschien er zwei Mal nicht zu Anhörungen, was mit dazu führte, dass er mehrere Wochen in Untersuchungshaft genommen wurde. Er sei damals aus Angst nicht zur Polizei gegangen, sagte er vor Gericht. Denn er habe früh realisiert, dass ihm die Beamten nicht glaubten.“

  8. 8
    Franz says:

    THANK YOU! ist wohl das passende Meme zur Antwort auf diese zutreffende und sachliche Auseinandersetzung mit der Entscheidung.

  9. 9
    Knoffel says:

    Notwehr ist teilweise ein sehr schwieriges Feld.

    Ein gegenwärtiger Angriff ist jedenfalls nicht alleine dadurch beendet, dass der Angreifer mit seinem Angriff (vermeintlich) fertig ist. Es kommt neben der Erstbegehungsgefahr nämlich immer noch die Wiederholungsgefahr dazu:

    1. Ein Angriff ist noch gegenwärtig, wenn er noch nicht endgültig abgewehrt und damit ohne Befürchtung unmittelbarer Wiederholung vollständig abgeschlossen war (vgl. BGHSt 27, 336, 339;BGH NStZ1987, 20).

    Ohne das Urteil zu kennen ist es aber schwierig, darüber zu urteilen, denn man weiß nicht, was die Richterin genau geschrieben hat.

  10. 10
    Mitleser says:

    @Andy, #6
    witzisch! Gewalt gegen Migranten hat mit Notwehr nun aber auch gar nichts zu tun! Also:
    Migranten verschlagen: strafbar und uncool!
    Migranten oder Mitbürger vor den Übergriffen von Migranten oder Mitbürgern schützen: legal und cool.
    Beide Gruppen sind unter den Tätern und Opfern…

    @Knoffel, #9
    genau dafür gibt es die 2. Instanz

  11. 11
    Raul says:

    Als Jurist, der weiß, wie schnell man in die Mühlen unserer Justiz gerät, werde ich NIEMALS körperlich in irgendwelche Konflikte eingreifen, selbst wenn dies für das Opfer den Tod bedeutet. Und diesen Rat kann ich nur jedem geben. Polizei rufen, aber mehr auch nicht. Neben der strafrechtlichen Schiene stehen zivilrechtliche Ansprüche des Geschädigten sowie der Krankenkasse u.a. im Raum, die einen ruinieren können.

    http://www.heise.de/tp/artikel/31/31167/1.html

  12. 12
    Andy says:

    @Mitleser,

    Ihr Leseverständnis läßt zu wünschen übrig.

    > Gewalt gegen Migranten hat mit Notwehr nun aber auch gar nichts zu tun! Also: Migranten verschlagen: strafbar und uncool!

    Hab ich das behauptet oder angedeutet? Wo? Ihre Interpretation ist abenteuerlich… denn:

    > Migranten oder Mitbürger vor den Übergriffen von Migranten oder Mitbürgern schützen: legal und cool.

    Mit solchen Urteilen im Hinterkopf wird genau das was sie im zweiten Satz beschreiben noch weitaus unwahrscheinlicher als es das jetzt schon ist. Und DAS macht mir Sorgen. Und nicht anderes hab ich im ersten Beitrag gesagt.

  13. 13
    Mitleser says:

    @Andy, #12
    In meiner idealen Welt wären Dash- und BodyCams für Jedermann erlaubt (Änderung des § 201 StGB dahingehend, dass nicht die Aufnahme, sondern die Weitergabe/Veröffentlichung strafbar ist – gerne mit deutlicher Erhöhung des Strafmasses) und als Beweismittel zugelassen- das löste das Problem.
    Aber wir leben leider eher in einem Staat, der Ta7äterschutz über Opferschutz stellt :(

    P.S. Habe neulich mit einem älteren (55+) StA telefoniert, der sich beklagte, dass er in Ermittlungsverfahren „niemandem trauen kann“. Auf die Nachfrage, ob er also DashCams als neutrale, kaum (Fälschung!) bestechliche Zeugen befürworte verneinte er aber: „Die werden nur von Querulanten eingesetzt“. Was soll man zu soviel Borniertheit sagen?!

  14. 14
    Mr Spock says:

    Wie ist das denn im Artikel zu verstehen: Ist mehrmals nicht zu polizeilichen Vernehmungen erschienen und kam dann in U-Haft?

    Im Verlauf der Ermittlungen erschien er zwei Mal nicht zu Anhörungen, was mit dazu führte, dass er mehrere Wochen in Untersuchungshaft genommen wurde. Er sei damals aus Angst nicht zur Polizei gegangen, sagte er vor Gericht. Denn er habe früh realisiert, dass ihm die Beamten nicht glaubten.

    Ich dachte, erst die Vorladung der StA wäre verpflichtend?

    • Da denken Sie richtig. Und der Journalist berichtet Falsches. Es kann grundsätzlich kein rechtlicher Zusammenhang zwischen dem Nichterscheinen zu einem polizeilichen Vernehmungsterminen und der Anordnung der Untersuchungshaft bestehen. Die tatsächlichen Hintergründe für die (angebliche) U-Haft sind mir nicht bekannt. crh