Richterlicher Feierabend per Textbaustein

Rückfragen des Landgerichts nach dem Ziel der Berufung sind üblich und sinnvoll. Das ist regelmäßig der erwartete Startschuß zur zweiten Runde. Gericht und Verteidigung klären dann, wie die zweite Tatsacheninstanz gestaltet werden soll. So weit, so gut.

Nun gibt es ja einen Erledigungsdruck auf der Seite des (stets überlasteten) Gerichts. Da lassen sich manche Vorsitzende Richter schon einiges einfallen, um ihr Ziel zu erreichen: Ein Häkchen auf der Zählkarte. Wie das in einem konkreten Fall aussieht, kann man hier mal nachlesen:

LG will nicht

Der Mandant ist vom Amtsgericht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Für diese Schwarzfahrt gab es zwar keine Entschuldigung, aber immerhin eine Erklärung.

Dennoch: Dem Urteil in dieser Verkehrsstrafsache ist ein Hau-Ruck-Verfahren mit Verurteilungsdruck vorausgegangen. Nun, der Mandant ist kein Waisenknabe. Aber verkehrsrechtlich eigentlich nicht mehr als üblich aufgefallen. Passiert ist auch nichts, konkret gefährdet war auch niemand. Und der Mandant kann Auto fahren. Gut sogar. Nur dürfen darf er es nicht (mehr).

Wir haben uns das überlegt: Berufung oder nicht. Die Konsequenzen, Risiken und Chancen gegeneinander abgewogen und uns dafür entschieden. Und zwar ganz bewußt.

Das Urteil des Amtsgericht ist nicht akzeptabel, deswegen wollte der Mandant es überprüfen lassen. Im Vertrauen auf ein faires Verfahren vor dem Landgericht.

Offenbar wird ein abgewägtes Vorgehen der Verteidigung bei dieser Berufungskammer nicht erwartet. Warum sonst entwickelt die Vorsitzende einen Textbaustein, den sie an die Verteidger verschickt, die ihr die Akten auf den Tisch legen.

Es mag sein, daß die Richterin sich damit den einen oder anderen Termin vom Hals hält. Aber – jedenfalls bei mir – mit einem üblen Beigeschmack. Sie kennt die nur die Akte. Nicht den Menschen. Sie kennt keinerlei Details, die nicht in dem flüchtigen Terminsprotokoll der Sitzung vor dem Amtsrichter stehen. Die ganzen Zwischentöne, die Informationen, die „Softskills“, die der Richter und die Protokollführerin schlicht weggefiltert haben, fehlen der Kontrollinstanz. Gleichwohl schreibt sie:

Nach […] Einschätzung auf der Grundlage der Akte […] erscheint das angefochtene Urteil nachvollziehbar und die Strafe nicht unangemessen.

Der Text, den ich bewußt aus diesem Zitat entfernt habe, entstammt im Schwerpunkt der richterlichen Vorsorge, einem Ablehnungsgesuch wegen der Besorgnis einer Befangenheit aus dem Weg zu gehen. Angstformulierungen, damit mam den Textbausteinverwender nicht festnageln kann. „Vorläufig“ und „Vorbehaltlich“ sind die Standardvokabeln von Richtern, die nicht zugeben wollen (und/oder dürfen), daß sie sich bereits entschieden, vorverurteilt haben.

Die Hilflosigkeit eines solchen „Ratschlags“ wird deutlich an diesem richterlichen Hinweis:

Gegebenenfalls sollte aus Kostengründen eine Rücknahme erwogen werden.

Mit mehr kann das Berufungsgericht nicht drohen. Da die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel eingelegt hat, kann es für den Mandanten am Ende des Verfahrens nicht „schlimmer“ werden. Die Rechtsmittelgerichte dürfen das Ergebnis der ersten Instanz nicht „verbösern“.

Also kommt so ein armseliges Kostenargument, eine vermeintliche Fürsorglichkeit, mit der die Zählkarte verdeckt werden soll. Der Mandant soll dazu bewogen werden, seine Freiheit für lange Monate aufzugeben, seinen Arbeitsplatz und seine Wohnung zu verlieren sowie die Beziehung zur Frau und Kindern zu risikieren, zumindest massiv zu belasten?!

Was – so frage ich mich – geht in dem Kopf eines derart pensengebeutelten Richters vor, wenn er so einen Textbaustein durch die Gegend schickt? Geht da überhaupt was drin vor, das weiter geht als von der Wand zur Tapete?

Ich beantrage jetzt erstmal Akteneinsicht und dann sehen wir weiter … Denn meine Aufgabe als Strafverteidiger besteht ganz sich nicht darin, für den frühen Feierabend einer Richterin zu sorgen.

Dieser Beitrag wurde unter Richter, Strafrecht, Verkehrsstrafrecht veröffentlicht.

16 Antworten auf Richterlicher Feierabend per Textbaustein

  1. 1
    Ernst says:

    Sie übergehen — bewusst oder nicht — eine Passage des Textbausteins: „nachdem Ihnen nunmehr die Gründe der angefochtenen Entscheidung vorliegen.“ Denn, wie Sie gut wissen (http://www.kanzlei-hoenig.de/2015/alles-luege-teil-1/) aber ebenfalls nicht sagen: Sie mussten Rechtsmittel binnen einer Woche einlegen und damit, ohne die schriftlichen Urteilsgründe zu kennen, nur die Verurteilung und das Strafmaß.

    • Sie berücksichtigen nicht, daß der Verteidigung auch die mündliche Urteilsbegründung bekannt ist. crh

    Ist das so selten, dass Sie (oder andere Kollegen, siehe https://www.lawblog.de/index.php/archives/2015/11/03/keine-revision-ohne-auftrag/) „vorsorglich“ Rechtsmittel einlegen — nur um zu schauen, ob der Mandant sie wirklich will (siehe RA Vetter im Lawblog) und ob die Begründung so „wasserdicht“ ist, dass ein Weiterbetreiben nicht lohnt? Oder läuft es *immer* wie hier dargestellt?:

    Wir haben uns das überlegt: Berufung oder nicht. Die Konsequenzen, Risiken und Chancen gegeneinander abgewogen und uns dafür entschieden. Und zwar ganz bewußt.

    Der Verteidiger hat es einfach: das Feindbild ist klar.

    • Einem Jurastudenten würde ich jetzt sagen: „Sie betreiben Sachverhaltsquetsche“. Ihr Kommentar hat nur mittelbaren Zusammenhang mit dem Beitrag. crh
  2. 2
    max says:

    Gericht auf der einen Seite, crh auf der anderen Seite…
    …und wie immer liegt die Wahrheit irgendwo zwischen den beiden Ansichten.

    Die beleidigenden Äußerungen des crh stoßen mir hier besonders übel auf.

    Es gibt an unserem LG eine recht hohe Anzahl an Berufungen, die von honorarfixierten Pflichtis eingelegt werden, nur um dann bei Aufruf der Sache zu erklären, dass die Berufung zurückgenommen wird oder dass den ganzen Tag schon versucht wurde, den (nicht erschienen) Mandant telefonisch zu erreichen…

  3. 3
    Non Nomen says:

    …die von honorarfixierten Pflichtis eingelegt werden…

    Ihr möglicherweise pejorativ gemeinter „Pflichti“ lässt ahnen, dass Sie als Staatsalimentierter in pekuniär bestens abgesichter Position vom hohen Rosse des Beamtentums herunterpredigen. Ja, Herr Beamter, es gibt Menschen die, wenn sie durch ihr Schaffen auch Ihr Einkommen miterwirtschaften, tatsächlich auch etwas dafür tun müssen.

  4. 4
    max says:

    Beides falsch. Weder pejorativ gemeint, noch Staatsbediensteter.

  5. 5
    morphium says:

    Befangenheit?

    • Ein Ablehnungsgesuch hätte allenfalls eine stimmungsaufhellende Wirkung. Für eine Ablösung der Richterin hat sie zu geschickt formuliert. crh
  6. 6
    Non Nomen says:

    Beides falsch. Weder pejorativ gemeint, noch Staatsbediensteter.

    Da sieht der geneigte Leser, wie im Pluralis Majestatis verwendete Possessivpronomen irreführen können…

  7. 7
    K75 S says:

    Woher kommt die Sicherheit, dass es sich um einen vorgefertigten Textbaustein handelt?

    Btw.: „Sie kennt die nur die Akte.“ & “ … Aufgabe als Strafverteidiger besteht ganz sich nicht darin, …“. Auch Bloggern soll ja manchmal Zeit fehlen. :-)

  8. 8
    HD says:

    Unbedingte Freiheitsstrafe wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis? Da würde mich jetzt ja die Vorstrafenlage interessieren.

    Im Übrigen meine ich auch, dass ein paar Worte mit Fallbezug dem richterlichen Schreiben bestimmt besser gestanden hätten.

  9. 9
    WPR_bei_WBS says:

    @ Ernst / crh:

    Inwieweit sollte die Begründung des AGs für eine Berufung eigentlich so Kampfentscheidend sein?

    In der Berufung wird ja eh neu verhandelt, und das Berufungsrecht als solches hängt ja auch nicht an der Begründung. Anders als bei der Revision.

  10. 10
    Miraculix says:

    Lesen wir das doch einmal anders:
    mit der Beschränkung auf die Rechtsfolgen legt die Richterin doch geradezu Nahe, daß man auf dem kurzen Dienstweg zu einer Bewährungsstrafe kommen könnte.
    Die Richterin macht Feierabend und der Mandant ist auch zufrieden – mehr kann man doch gar nicht erreichen ;)

  11. 11
    Der wahre T1000 says:

    Das Wort „Pflichti“ war mir auch noch nicht bekannt. Aus meiner Sicht ist das nicht pejorativ, sondern eher ein Dysphemismus.

    So ähnlich wie „Mietmaul“.

  12. 12
    RA Ullrich says:

    Als Anwalt, der früher mal Richter war, finde ich es etwas unfair, dass Sie die von Ihnen ausgesparten Textbausteine pauschal als Angstvokabeln abkanzeln und dem Schreiben entnehmen wollen, dass sich das Gericht bereits festgelegt hat. Ich hab diese Vokabeln als Richter auch oft benutzt und meistens (zugegeben, nicht immer) auch ernst gemeint. Ich würde mir jedenfalls nicht anmaßen, aufgrund eines (oftmals relativ kurz und schlampig begründeten) erstinstanzlichen Urteils des AG-Einzelrichters und des Verhandlungsprotokolls schon alle relevanten Aspekte zu kennen, gerade auch zur Frage der Sozialprognose. Sehr wohl lese ich aber als Berufungsrichter die Akte und habe danach eine (ggf. vorläufige) Meinung dazu, ob sich der Kollege am Amtsgericht nach Aktenlage nun ersichtlich verhauen hat oder ob dessen Ergebnis in etwa hinkommen dürfte. Eine in solchem Sinne vorgefasste (aber durchaus nicht durch den weiteren Verfahrensverlauf unbeeinflussbare) Meinung zum Fall hat jeder Berufungsrichter, und es kann der Verteidigung in der Regel nicht schaden, wenn der Richter mit offenen Karten spielt anstatt ein Pokerface aufzusetzen. Da weiß man immerhin, ob man offene Türen einrennt oder ob man intensive Überzeugungsarbeit leisten muss.

    Ich muss Ihnen allerdings insoweit zustimmen, dass eine solche Anregung der Berufungsrücknahme bei einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung (und ohne U-Haft) ein wenig lebensfremd ist. Die meisten Angeklagten wollen da doch eher jede auch nur entfernte Chance nutzen, dieses Ergebnis noch abzuwenden oder wenigstens den Haftantritt zu verzögern.

  13. 13
    egal says:

    Bei allem Verständnis für die so gebeutelte Richterschaft, aber wenn in der ersten Instanz keine Bewährung rauskam, ist dieser Textbaustein eine Frechheit.

    Jeder Praktiker weiß doch, dass gerade bei den Landgerichten – und besonders beim LG Berlin – solche Verhandlungen einen längeren Vorlauf benötigen. Gerade wenn die StA kein Rechtsmittel einlegt, kanns doch nur besser werden. Dass es nicht einfach werden wird, weiß die Verteidigung und Mandantschaft ja schon alleine. Aber alleine für die Bewährung lohnt es sich schon zu kämpfen.

    Beim normalen Verfahrensgang dürfte eine Verurteilung ohne Bewährung in 1-2 Jahren und bei Fehlen weiterer Straftaten so ziemlich ausgeschlossen sein, wenn Job und Familie und der Rest stimmt.

    Das sollte auch der Landrichter wissen und weiß es wohl auch. Deswegen ist dieser Textbaustein eine Frechtheit, denn er soll einen dummen oder unerfahrenen Verteidiger dazu verleiten, seinen Mandanten ins Gefängnis zu schicken.

    Und das nur, weil der Richter sich das Urteil angeschaut hat. Dass er sich die komplette Akte angeschaut hat, halte ich nicht für sehr wahrscheinlich…

  14. 14
    Denny Crane says:

    Das wäre ja alles halb so schlimm, läse man Ähnliches auch einmal, wenn die Berufung aus Sicht des Gerichts Aussicht auf Erfolg hat oder die Berufung der Staatsanwaltschaft unbegründet erscheint.

    Ich kann mich allerdings nur an wenige Schreiben einer Berufungskammer an die Staatsanwaltschaft erinnern, man möge den Strafantrag überdenken oder die Berufung zurücknehmen. Überhaupt nicht kann ich mich an Verfügungen des Gerichts erinnern, die mir bestätigten, daß die Berufung nach vorläufiger Ansicht des Gerichts in diesem und jenem Punkt begründet und deshalb mit einer Verbesserung der erstinstanzlichen Entscheidung zu rechnen sei.

    Gleiches passiert im übrigen fast immer (!) in Verkehrs-OWi-Sachen. Mag die Messung auch noch so offensichtlich unverwertbar sein, man erhält fast immer (!) einen Textbaustein, wonach die Rücknahme des Einspruchs überdacht werden möge, da der Bußgeldbescheid rechtmäßig erscheine. Es kann mir kein Richter erzählen, daß er die Akte vorher sorgfältig gelesen, die Meßdokumentation sowie die entsprechende Rechtsprechung hierzu vorher seriös geprüft hat.

    Im übrigen sollte jede Richter wissen, daß die Einlegung eines Rechtsmittels dem Mandanten legitimerweise oftmals auch dem Zeitgewinn dient, um seine Situation zu verbessern, entweder, um sich auf die (unvermeidbare) Rechtsfolge besser vorbereiten zu können (Freiheitsstrafe, Fahrverbot, Geldstrafe) oder durch Zeitablauf zu dokumentieren, daß er sich gebessert hat. Außerdem werden viele revisionsrechtlch beachtliche Fehler erst in der zweiten Instanz gemacht. Ein Rechtsmittel ist für den Mandanten fast immer sinnvoll.

    Und das Kostenargument? Ach Gott, was kümmern einen Knastkandidaten , einem Rechtsschutzversicherten oder einem wohlhabenden Mandanten 1.000,- Euro?

  15. 15
    klaus says:

    Auch ein kleiner Haken bleibt ein Häkchen.
    Und ein kleiner Schuh hat ein Häckchen.

  16. 16
    Matthias says:

    Manche Richter werden nicht nur immer fauler und bequemer, sondern bewegen sich schon Richtung Rechtsbeugung. Unglaublich sowas.