Richterliche Fürsorge

Das Gericht hat stets darauf zu achten, daß es dem Angeklagten gut geht. Also nicht so, daß er sich wohlfühlt und richtig gute Laune hat, bevor er zu – sagen wir mal – einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt wird. Aber wenigstens verhandlungsfähig, jedenfalls einigermaßen, sollte er schon sein. Der Angeklagte. Der Richter natürlich auch. Daran hat sich der Richter des Amtsgerichts Görlitz auch gehalten.

Express.de berichtete:

Es ist zehn Uhr am Morgen im Gerichtssaal, als bei Andrzej P. plötzlich die Hände zu zittern anfangen. Der Körper schüttelt sich immer wieder. Die Verteidigerin beantragt eine Unterbrechung der Verhandlung: „Mein Mandant hat Alkoholprobleme.“

Und wie löst der erfahrene Praktiker solche Probleme? Ganz einfach:

Richter Uwe Böcker überlegt und stellt dem Polen eine ungewöhnliche Frage: „Wie lange brauchen Sie, um sich aufzufüllen?“ Dann unterbricht er die Verhandlung für eine Stunde.

Unbestätigten Gerüchten zufolge hat der Richter den Angeklagten nicht in die Kneipe begleitet.

Besten Dank an Thomas H. für den Hinweis auf diese Justizposse.

 

Dieser Beitrag wurde unter Richter veröffentlicht.

16 Antworten auf Richterliche Fürsorge

  1. 1
    egal says:

    Warum Justizposse?

    Bei Schwerstabhängigen ist das „Auffüllen“ zumindest das richtige Mittel, Abstinenz kann nämlich dann nicht nur Zittern, sondern auch den Tod verursachen.

  2. 2
    Dieter W. says:

    Ich verstehe nicht ganz, warum das eine Justizposse sein soll. Soweit ich weiß, funktionieren Schwerabhängige mit ihrer gewohnten Alkoholmenge besser als ohne. Wenn also Verhandlungsfähigkeit gefragt ist, kann das auch etwas anderes als null Promille bedeuten. Erfahrener Praktiker ist in dem Fall ein Lob ohne jede Ironie, sofern der Richter auch darauf achtet, daß er keinen Volltrunkenen vor sich hat.

    Dieter

  3. 3
    Tourix says:

    Für Nichtalkoholiker echt schwer zu verstehen,
    aber Alkoholiker brauchen einen gewissen „Pegel“, sonst bekommen sie das große Zittern und sie können sich auch nicht konzentrieren.
    Insofern hat sich der Richter als erfahrener Praktiker gezeigt.

  4. 4
    tapir says:

    Posse, weil Richter wohl häufiger die Verhandlungsfähigkeit von alkoholisierten Angeklagten anzweifeln müssen, als dass sie diese zum erreichen eines „gewissen Pegels“ anregen?!

  5. 5
    tapir says:

    Das „E“ von „Erreichen“ sollte groß und der Text war für „egal“ und „Dieter W.“ gedacht. :-)

  6. 6
    RA Brüderle says:

    Vielleicht hatte der Richter da eigene Erfahrungen. „Alkoholkranker Richter“ soll in manchen kleinen Amtsgerichten ja eine Tautologie sein. ;-)

    Wie sagte neulich der Mandant zu mir, als er den Gegenanwalt und den Richter erblickte? „Die beiden kenne ich!“ – „Ach ja, woher?“ – „Von den anonymen Alkoholikern“ …

  7. 7
    Staatsanwalt says:

    Ich habe mal eine Verhandlung mit einer Reihe von schwer alkoholabhängigen Zeugen erleben müssen.

    Beim ersten Anlauf war der Pegel zu hoch, als dass die Zeugen noch vernehmungsfähig waren.

    Beim zweiten Anlauf wurden sie sehr zeitig zur Ausnüchterung in Gewahrsam genommen, so dass sich nun das beschriebene massive Zitterproblem einstellte. Die sehr erfahrene Schöffenrichterin hat erwogen, bei einer weiteren Verhandlung eine Flasche unter der Richterbank zu deponieren, um eine Vernehmungsfähigkeit der Zeugen zu gewährleisten, da offensichtlich nur ein schmales Zeitfenster für den Pegel existierte, indem die Zeugen vernehmungsfähig waren. Wir haben die Zeugen beschleunigt vernommen. Das Verfahren wurde dann aber anderweitig erledigt.

    M.E. war die Maßnahme des zitierten Amtsrichters – soweit sich der Konsum in Grenzen hielt – medizinisch indiziert. Praktiker ja, Posse nein.

  8. 8

    @Staatsanwalt:

    Den Angeklagten – mit Zustimmung der Verteidigung – kurzzeitig in die Kneipe zu schicken, ist eine Sache. Ich könnte mir durchaus einige wenige Situationen vorstellen, wo ich als Verteidiger so etwas mitmachen würde.

    Eine andere Sache ist es, wenn es um alk.-kranke Zeugen geht. Die erste Frage stellt sich bereits nach der Zeugentüchtigkeit: In welchem Zustand haben sie ihre (angeblichen) Wahrnehmungen gemacht? Wie die Reaktion eine engagierten Verteidigers aussehen wird, muß ich nicht vortragen, oder?

    Eine erfahrene Schöffenrichterin, die in meinem Beisein versucht, einen Zeugen mithilfe von Alk. wieder auf die Beine zu helfen, hätte dann bestimmt ein massives prozessuales Problem.

    Wenn eine Richterin (oder ein Staatsanwalt) meinen, beurteilen zu können, wann die Gabe von Alkohol „medizinisch indiziert“ ist, deutet das sicherlich auf einige eigene Erfahrung im Umgang mit diesem Nerven-Gift (ok, das ist jetzt _ein wenig_ übertrieben) hin, aber sicherlich nicht auf eine besondere juristische Kompetenz.

    Darf die Vorsitzende das eigentlich allein entscheiden, oder ist dazu nicht ein Gerichtsbeschluß erforderlich? Oder noch ketzerischer: Muß die Galerie (vulgo: gesundes Volksempfinden) in diese Entscheidung mit einbezogen werden? Wer entscheidet über die Art und die Menge der Gabe? Wie lange muß abgewartet werden, bis der Zeuge „vernehmungsfähig“ ist – bis er sein Bäuerchen gemacht hat oder sobald die Mass leer ist?

    Sag‘ mal, geht’s noch?? Wie geht Ihr mit drogenabhängigen Zeugen um, die auf Turkey sind??

  9. 9
    Thomas says:

    Wenn ich „Staatsanwalt“ richtig verstehe, ist es ja letztlich nicht zur Gabe von Alkohol an die Zeugen gekommen und das Verfahren wurde anders erledigt. Aber natürlich sind alkohol- und drogenabhängige Zeugen ein Problem, da sie entweder „breit“ oder entzügig sind. Einen solchen Zeugen, selbst unter medizinischer Aufsicht, gerade so einzustellen, daß er vermeintlich den „richtigen“ Pegel hat, um aussagetüchtig zu sein, scheidet wohl aus. Abgesehen davon, daß sich, worauf Herr Hoenig zutreffend hinweist, auch die Frage stellt, in welchem Zustand der Zeuge seine Wahrnehmungen gemacht haben will.

  10. 10
    ???? says:

    Ich bin keine Ärztin, aber hier gibt es gravierende Unterschiede zwischen Quartalssäufer und Gamma-Alkoholiker. Der Richter (vielleicht arbeitet seine Frau beim sozialpsychiatrischen Dienst) scheint erkannt zu haben, dass der Angeklagte – natürlich ein Pole – ein „Spiegeltrinker“ ist.

    Da muss der Alkoholspiegel ein bestimmtes Level haben, sonst brechen diese Leute zusammen. Mit einem „…reiß dich zusammen….“ ist es da nicht getan.

    Ich kenne einen Rechtsanwalt, der vorher noch Sozialpädagogik studiert hat. Der kennt solche Mandanten, aber auch Richter. Eigentlich muss bei solchen Leuten während der Verhandlung ein Amtsarzt danebensitzen.

    Es gibt auch Musiker, die nur dann fehlerfrei Orgel spielen können, wenn sie einen „gezwitschert“ haben.

    Solche Leute können mit Routine und einem guten Sozialverhalten viel vertuschen.

  11. 11

    Ohne das Hauptthema hier zur Seite schieben zu wollen: In der Tat finde ich es (mehr als) diskussionswürdig, dass im Bericht auch die (polnische) Nationalität des Zeugen genannt wird. Sie hat keinerlei Relevanz für die Meldung, so weit ich erkennen kann.

  12. 12
    malnachgefragt says:

    Ähm, zur Frage: wie geht ihr mit drogenabhängigen Zeugen um:Ist doch ein Standardproblem nicht nur bei Zeugen-, sondern auch bei Beschuldigtenvernehmungen. Hatte der Vernommene Gelegenheit, sein Methadon zu nehmen oder war er nicht vernehmungsfähig und wurde er gar wegen verweigerter Methadonaufnahme in unzulässiger Weise vernommen. Siehe z.B. den „Holzklotz-Prozess“.
    Ach so,was die Alkoholikerquote in der Justiz angeht:liegt das entweder daran, dass die Richter den Kummer ertränken wollen, mit Staatsnote nicht in eine Topverdiener-Großkanzlei gegangen zu sein oder daran, dass sie so oft Schriftsätze lesen müssen, die nah an der Grenze zum Schwachsinn taumeln?

      Wenn schwachsinnige Schriftsätze bei Richtern zu einem Alkoholproblem führen sollen: Wohin führen solche Kommentare wie dieser hier bei bloggenden Strafverteidigern? crh
  13. 13
    Homie says:

    Wenn ich heute das Geld hätte was ich bereits versoffen habe, würde ich jetzt gerne einen Saufen gehen. ;-)

  14. 14
    RA Lustig says:

    Es steht jedem Richter frei, die samtbesetzte Robe an den Nagel zu hängen und sich in einer schicken Großbude mit englischen Namen („Stock Aitken Waterman“ oder so) zu versuchen. Das führt aber regelmäßig zu einem Kulturschock und verringert den Kummer keinesfalls.

  15. 15
    Staatsanwalt says:

    @Hoenig:

    Es war eine Überlegung, die nicht zum Zuge gekommen ist. Wir haben das schmale Zeitfenster so gerade nutzen können, weil alle Beteiligten die Vernehmung kurzmöglichst gestalteten. Und das Ergebnis war definitiv nicht zum Nachteil des Angeklagten!

    Wie sieht allerdings im worst case die Alternative aus? Was, wenn wie in einem Schwurgerichtsverfahren eine stundenlange Vernehmung erforderlich ist? Die Zeugen in ihren „normalen“ Tageszustand zu vernehmen war gescheitert, bei Zwangsentzug wurde es auch kritisch mit dem körperlichen Zustand. Auf eine Vernehmung dieser Zeugen als einziges Beweismittel konnte grundsätzlich auch nicht verzichtet werden. Und eine Feststellung der Zeugnisunfähigkeit von Alokoholkranken gibt es so nicht.

    Selbstverständlich hätte niemand den Zeugen Alkohol eingeflößt, sondern ihnen allenfalls Gelegenheit zum begrenzten Konsum gegeben. Das Deponieren der Flasche unter der Richterbank ist zwar so geäußert worden, war wohl nicht ganz ernst gemeint. Es wäre wohl ähnlich wie im zitierten Ausgangsfall gelaufen, wobei man dann für den Erfolg auf die (Rest)Vernunft der Zeugen und den begrenzten Vorrat hätte vertrauen müssen. Konkret war meiner Erinnerung nach die Rede von einem „Flachmann“ für sämtliche Zeugen. Ich habe auch Verfahren erleben müssen, wo Beteiligte aus verschiedenen medizinischen Gründen (nichtalkoholische) Getränke bzw. Speisen konsumieren mussten, um keine körperliohen Ausfälle zu haben. Inwieweit diese Personen dann im Verfahren aussagetüchtig sind, ist zunächst vom Gericht festzustellen. Eine medizinisch fundierte und allgemeingültige Promillegrenze für Aussagen ist mir nicht bekannt. Wenn Zweifel bestehen, ist ggf. dann ein Arzt hinzuziehen.

    Was also machen? Eine Alternative wäre vielleicht die ärztliche Behandlung mit Mitteln, die die Auswirkungen des Entzugs mildern und eine Aussagetüchtigkeit herbeizuführen. Ist der Zeuge dann aber wegen der dämpfenden Wirkung bewussteinsklar? Was wenn der Zeuge Medikamente nicht einnehmen will? Ordnungsmittel bis ultimo gegen den Zeugen? Wie lange Vorlaufzeit ist bei Medikamentation erforderlich? Ich weiß auch kein Patenrezept, wie man mit solchen Zeugen umgehen soll, insbesondere wenn es wie in dem von mir geschilderten Fall um eine ganze Reihe von solchen Zeugen geht. Allerdings gibt es wohl kein absolutes Alkoholverbot für Zeugen, insoweit erscheint mir der Weg (gerade noch) als Praktikerlösung vertretbar.

    Und über Junkies auf Turkey brauchen wir nicht zu diskutieren. In allen Fällen die ich bislang erlebt habe, ist dann abgebrochen und ein neuer Anlauf unternommen worden. Dann waren die Betroffenen aussagetüchtig. Ob dies aber auf einer kurzfristigen Überwindung der Abhängigkeit, einer Substitution mit Methadon o.ä. oder ausreichenden Konsum vor der Verhandlung beruhte, sei dahingestellt. Die Situation werden sie zweifellos auch schon häufiger erlebt haben. Aus bekannten rechtlichen Gründen besteht hier aber kaum die Möglichkeit, den Zeugen Gelegenheit zum Konsum von Btm als illegales Nervengift zu geben.

    Ich hoffe, ich habe damit einiges klargestellt.

    BTW: Ja ich habe durchaus – auch dienstliche – Erfahrungen mit Alkohol und Ausfallerscheinungen. Ich habe wiederholt an „Trinkversuchen“ unter Kontrolle eines Atemalkoholmessegeräts teilgenommen, wobei meine Ausfallerscheinungen jedenfalls ab 0,8 Promille sicherlich nicht mit denen eines Schwerstalkoholikers verglichen werden können. Diese Versuchen sind sicherlich für jeden in Strafsachen tätigen Juristen äußerst lehrreich, nicht nur für die „Kavallerie der Jurisprudenz“ (dumm, schneidig, trinkfest).

      Besten Dank für diese ausführliche Klarstellung, die dann doch des einen oder anderen Weltbild wieder gerade zu rücken geeignet ist.

      Sie haben Recht: Bedröhnte Zeugen bekommt man nicht mit sturer Gesetzesanwendung in den Griff; in aller Regel findet sich eine praktikable Lösung, wenn die (professionell) Beteiligten mit Augenmaß an das Problem herangehen. crh

  16. 16
    egal says:

    Hä, hat jetzt Staatsanwalt selbst einen Kommentar zu seinem eigenen Kommentar geschrieben?

    Falls dem nicht so sein sollte, dann hat wohl offensichtlich der Betreiber dieses Bloggs ein Problem mit dem Urheberrecht – aber dies, ist ein ganz anderes Problem in der Praxis.