Notwendige Verteidung wegen erforderlicher Akteneinsicht

Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor, wenn ohne die Kenntnis der Akten eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich ist.

Kammergericht, Beschluß vom 14. Januar 2007, Aktenzeichen: (2) 1 Ss 438/07 (33/07)
(Leitsatz des Verfassers)

Die türkische Angeklagte, die die deutsche Sprache nicht beherrscht, wurde durch die Aussagen von drei arabischen Jugendlichen im Alter von 14 und 18 Jahren belastet. Sie soll eine gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB) in zwei Fällen begangen haben. Sie hat die ihr zur Last gelegte Tat bestritten.

Ich hatte mich als ihr Verteidiger gemeldet und meine Bestellung als Pflichtverteidiger beantragt. Der Antrag wurde vom Amtsgericht abgelehnt, meine dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Landgericht als unbegründet verworfen. Ich habe die Angeklagte instruiert, sie dann aber nicht in der Hauptverhandlung verteidigt. Sie wurde verurteilt und ich habe gegen das Urteil des Amtsgerichts erfolgreich (Sprung)Revision erhoben.

Das Kammergericht gab der Revision aus mehreren Gründen statt.

Die türkische Angeklagte stand völlig allein einer ihr feindlich gesonnenen Gruppe von Jugendlichen gegenüber; unbeteiligte Zeugen gab es nicht. Zur Verteidigung war es unabdingbar erforderlich, die in den Akten niedergelegten Bekundungen der Zeugen in ihren Einzelheiten zu kennen, um gegebenenfalls Widersprüche herauszuarbeiten. Das ist nur nach Akteneinsicht möglich, die nur dem Verteidiger zusteht (§ 147 Abs. 1 StPO).

Ich habe die Entscheidung des Kammergerichts hier vollständig veröffentlicht. Sie ist nicht nur zur Verdeutlichung des Leitsatzes lesenswert. Denn obwohl die formelle Rüge bereits durchgriff, ging das Revisionsgericht noch auf die Sachrüge ein und deckte ganz erhebliche Schwachstellen der erstinstanzlichen Entscheidung auf.

Bei mir ist (nicht erst nach diesem Beschluß) der Verdacht aufgekommen, daß es sich manche Richter am Amtsgericht oft sehr einfach machen, wenn die Angeklagten nicht verteidigt werden. Im vorliegenden Fall hatte das Gericht wohl nicht damit gerechnet, daß ich doch noch eine ernst gemeinte Revision schreibe, nachdem meine Bestellung als Pflichtverteidiger abgelehnt wurde. Und entsprechend nachlässig wurde gearbeitet.

Die mehr als zweiseitige „Anmerkung“ des Kammergerichts zu der Qualität der Arbeit des Richters am Amtsgericht spricht eine recht deutliche Sprache.

Dieser Beitrag wurde unter Gericht, Richter, Verteidigung veröffentlicht.

8 Antworten auf Notwendige Verteidung wegen erforderlicher Akteneinsicht

  1. 1

    Der Link auf das PDF funktioniert leider nicht. :-(

  2. 2

    Da ist wohl Ihr Browser kaputt! Internet Explorer?

  3. 3
    RA JM says:

    … sag ich doch, nehmt OPERA!

    I.Ü. schon sehenswert, wie das KG trotz nicht bestehender Notwendigkeit das Urteil des AG zerlegt.

  4. 4

    Gratuliere zu dieser Entscheidung. Mal wieder ein kleiner Sieg des Rechtsstaats, von dem ich immer das unbestimmte Gefühl habe, dass er immer kleiner und unbedeutender wird.

  5. 5
    Georg Kowallek says:

    Für mich als relativer Laie klingt die Begründung ja wie „6, setzen!“ für den Jugendrichter. Wird das denn spurlos an selbigem vorbei gehen?

  6. 6
    ra kuemmerle says:

    Da der Trackbacklink – warum auch immer nicht funktioniert – auf diesem Wege herzlichen Glückwunsch zu diesem gelungenen Konter.

  7. 7
    erbscleicher says:

    grosses kino! und danke für den vorbeimarsch, wie man den zuvor befassten fachbereichen in die parade gefahren ist! ;)

  8. 8

    […] Beschluss vom 14. Januar 2007 – (2) 1 Ss 438/07 (33/07) [via Kanzlei Hoenig Info] speichern & […]