Selbstverständlichkeiten beim EGMR und AG Gladbeck

In seinem Urteil vom 12.11.2015 (2130/10) stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fest:

Zwischen einer Äußerung, dass jemand verdächtig ist, eine Straftat begangen zu haben, und einer eindeutigen Erklärung, dass er die Straftat begangen hat, ohne dass er rechtskräftig verurteilt worden ist, muss grundsätzlich unterschieden werden. Die zuletzt genannte Äußerung verletzt die Unschuldsvermutung, während die erste mit Art. 6 II EMRK vereinbar ist. (Leitsatz aus BeckRS 2016, 16668)

141070_web_r_by_jan-von-broeckel_pixelio-deIn der Sache ging es um Art. 6 II EMRK, Art. 35 III b EMRK und Art. 41 EMRK im Zusammenhang mit dem Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung. Es ist erstaunlich, daß ein Richter am Amtsgericht Gladbeck erst die deutliche Ansage des EGMR braucht, damit an sich völlig Selbstverständliches auch Wirklichkeit im nördlichen Ruhrgebiet werden kann.

Der vom AG Gladbeck in den Knast Geschickte reklamierte die Verletzung der in Art. 6 Abs. 2 EMRK garantierte Unschuldsvermutung. Die deutschen Gerichte hätten die Aussetzung seiner Strafe mit der Begründung widerrufen, er habe in der Bewährungszeit einen weiteren Einbruchsdiebstahl begangen. Er bestritt jedoch, diese neue Straftat begangen zu haben. Im Zeitpunkt des Widerrufs war er auch noch nicht verurteilt gewesen, schon gar nicht rechtskräftig. Die Gerichte haben sich nur auf sein ursprüngliches Geständnis vor dem Ermittlungsrichter gestützt. Das war jedoch unwirksam, weil er es zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidungen bereits widerrufen habe.

Das Verfahren (mindestens) zeigt zweierlei:

  • Die Verteidigung vor dem Ermittlungsrichter – z.B. wenn es um die Frage der Haftverschonung geht – darf die Konsequenzen einer (frühen) Einlassung für das bzw. alle weitere(n) Verfahren nicht aus dem Blick verlieren.
  • Wenn eine Staatsanwaltschaft und ein Gericht jemanden in den Knast schicken möchten, schrecken sie im Einzelfall noch nicht einmal vor Menschenrechtsverletzungen zurück.

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Quelle des Leitsatzes: Beck Online (nur für Abonennten einsehbar)

Bild: © Jan von Bröckel / pixelio.de

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5 Antworten auf Selbstverständlichkeiten beim EGMR und AG Gladbeck

  1. 1
    Der wahre T1000 says:

    Nur damit ich das richtig verstehe. Jemand hat wegen einer Straftat eine Strafe zur Bewährung bekommen. In der Bewährungszeit wird er einer weiteren Straftat verdächtigt, die er vor dem Untersuchungsrichter einräumt/gesteht. Später widerruft es das Geständnis.

    Das Verfahren in der erneuten Sache ist noch offen, weil es bisher keine rechtskräftige Verurteilung gab (die aber ziemlich sicher irgendwann kommen wird). Der Täter bleibt deswegen zunächst weiter in Freiheit. Zumindest soll er das.

    Können Sie als guter Strafverteidiger denn so ein neues Verfahren über die Bewährungszeit hinaus verschleppen und den Mann so ganz von seiner ersten Strafe freiboxen?

    • Ob ich ein guter Strafverteidiger bin, kann ich nicht bestätigen; das können vielleicht andere.

      Aber sicher gibt es reichlich Möglichkeiten, mit einer effektiven Verteidigung die Sache(n) insgesamt zum Positiven zu bewegen. Nur eine Variante von vielen: In der zweiten Sache kommt es zwar zu einer Verurteilung, allerdings wird die ausgeurteilte Freiheitsstrafe doch noch einmal zur Bewährung ausgesetzt. Dann gibt es also die positive Prognose eines Richters nach einer ausführlichen Beweisaufnahme. In der Folge wird es für den Richter in zweiten Sache schwierig, sich darüber hinweg zu setzen. Im übrigen gilt auch hier der Grundsatz der Hohen See in Gottes Hand.

      BTW:
      „Verschleppen“ ist wertend. „Nutzung der vom Verfahrensrecht vorgesehenen Möglichkeiten im Rahmen eines Verteidigungsauftrags“ trifft den rechtstaatlichen Kern. crh

  2. 2
    Hanno says:

    Wer die EGMR-Entscheidung liest, stellt fest: Es ging nicht um ein „In-den-Knast-Schicken“, weil der Mann sowieso in Untersuchungshaft war. Von der nach dem Widerruf zu vollstreckenden Strafhaft ist kein einziger Tag vollstreckt worden.

  3. 3
    Waschi says:

    @Hanno: Das stimmt nicht. Er war zwar schon in U-Haft. Sobald der Widerruf rechtskräftig war, hatte die Strafhaft aber Vorrang vor der Untersuchungshaft und war zu vollstrecken. Steht auch im EGMR-Urteil:
    „Am 7. Dezember 2009 wurde die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers aufgrund eines Beschlusses des Amtsgerichts Gladbeck unterbrochen, so dass er die mit dem Urteil des Amtsgerichts Gladbeck vom 9. Oktober 2008 gegen ihn verhängte Jugendstrafe antreten konnte.“

    @crh:
    „Es ist erstaunlich, daß ein Richter am Amtsgericht Gladbeck erst die deutliche Ansage des EGMR braucht, damit an sich völlig Selbstverständliches auch Wirklichkeit im nördlichen Ruhrgebiet werden kann.“
    Dass Sie hier die „dummes Provinzgericht“-Karte ziehen, finde ich dann doch recht erstaunlich. Erstens geht es in dem EGMR-Urteil nicht um die Entscheidung des AG Gladbeck, sondern des Landgerichts Essen (ok, vielleicht auch noch Provinz). Und zweitens sollte man dann auch sagen, dass das nicht irgendeine versponnene Ruhrgebiets-Idee ist, sondern bundesweit gängige Praxis. Dass ein glaubhaftes richterliches Geständnis für einen Widerruf reichen soll, steht z.B. auch in der StGB-Kommentierung von Fischer.

    • Mir ging es hier nicht um die Provinz, sondern um diesen individuellen RiAG. Daß die Beschwerdegerichte die Entscheidung ihres Kollegen gehalten haben, könnte man auch noch einmal zum Gegenstand einer Glosse machen.

      Nebenbei: Sie müssen sich wegen Ihrer provinziellen Herkunft nicht grämen. Ich liebe Euch doch alle … crh

  4. 4
    Ellen says:

    @DerwahreT1000:

    Das „Verschleppen“ des neuen Verfahrens über die Bewährungszeit hinaus würde für sich gesehen keinen großen Sinn machen. Nach der Rechtsprechung ist grundsätzlich ein Bewährungswiderruf auch nach Ablauf der Bewährungszeit möglich, wenn eine Verurteilung während in der Bewährungszeit begangener Straftaten erfolgt. Voraussetzung ist allerdings, dass der Betroffene nicht darauf vertrauen durfte, dass die Strafe erlassen wird. Daher ist es erforderlich, den Betroffenen seitens des Gerichts rechtzeitig auf obiges hinzuweisen mit dem Zusatz, dass der Ausgang des neuen Verfahrens abgewartet wird.

  5. 5
    Waschi says:

    @crh; Danke für die aufmunternden Worte aus der Großstadt… So etwas zu lesen, macht doch Mut.