Frist für die Vorlesung des Strafverteidigers

220px-kafka_der_prozess_1925Über das kafkaeske Verfahren, dem mein Mandant derzeit ausgesetzt wurde, hatte ich in der vergangenen Woche berichtet.

Gegen ihn wurde Anklage erhoben und ihm eine 765 Seiten starke Anklageschrift vom Vorsitzenden Richter quasi persönlich in die Hand gedrückt. Allerdings hat man dem Mandanten den Ordner mit der Anklage sofort wieder abgenommen. In der Untersuchungshaftanstalt. Aus Gründen des Brandschutzes.

Nachdem der Mandant dem Gericht anläßlich des Haftprüfungstermins am 29.11.2016 über diesen noch nie dagewesene Eingriff in die Verteidigungsrechte berichtete, hat der Vorsitzende wohl mal ein ernstes Wörtchen mit dem Leiter der JVA gesprochen. Jedenfalls liegt das Anklagepaket seit dem 30.11.2016 auf dem Tisch in der Zelle des Mandanten.

Meinen Antrag auf die angemessene Verlängerung der Frist zur Stellungnahme im Zwischenverfahren (§ 201 Abs. 1 StPO) quittierte der Vorsitzende mit einem lustigen

einlassungsfrist

Dafür hatte er auch ein Argument. Ich hatte den Mandanten am 14.11.2016 in der U-Haft besucht. Dazu bemerkte der Richter lapidar:

Auch hätte er sich spätestens an diesem Tag über seinen Verteidiger über den Anklageinhalt informieren können.

Nochmal in einfach verständlichen Worten:
Die Anklageschrift umfaßt siebenhundertfünfundsechzig Seiten. Auch wenn man die Tabellen, die der konkrete Anklagesatz enthält, mal abzieht (obwohl sie gerichtsbekanntermaßen teilweise grob fehlerhafte Datensätze enthält und von meinem Mandanten analysiert werden müssen), reicht der Rest immer noch aus, um damit eine spannende Vorlesung von einem knappen Semester abzuhalten.

Nur nebenbei sei noch angemerkt:
Man (vermutlich das Gericht) hatte dem Mandanten nicht nur zwei Datenträger mit den digitalisierten Akten übergeben. Er berichtete mir auch davon, daß er die Silberlinge – Hört! Hört! – in einen Anstalts-Rechner einlegen durfte. Was fehlte also jetzt noch zur Akteneinsicht? Richtig! Die Passworte, damit er die geschützen ZIP-Dateien öffnen kann. Die hat er mittlerweile von uns bekommen (sofern sie mit den uns mitgeteilten identisch sind).

Irgendwann im Laufe dieser Woche wird er dann noch einmal einen Versuch starten können, sich die 21 Bände der Hauptakten, die 58 Sonderbände, die 15 Beweismittelordner und rund 20 weitere Bände beigezogener Akten aus anderen Verfahren zumindest mal anschauen zu können.

In dem ursprünglichen Beitrag hatte ich abschließend eine Frage gestellt, die ich hier wiederholen möchte:

Was rät der Verteidiger dem Richter in so einer Situation? Bis zum Fristablauf heute um 24.00 Uhr?

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Bild: © © Foto H.-P.Haack – Antiquariat Dr. Haack Leipzig / via Wikipedia

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12 Antworten auf Frist für die Vorlesung des Strafverteidigers

  1. 1
    Andreas says:

    Wie wäre es mit einem knackigen Ablehnungsantrag gegen diesen Richter? a) das Recht auf angemessene Verteidigung nimmt er nicht ernst, b) rechtliches Gehör wird selbst nach ausdrücklicher Beanstandung nicht (ausreichend) gewährt und c) er scheint ja schon von der Schuld des Angenagten überzeugt zu sein und glaubt nicht, dass die Kenntnis der Anklage dem „Objekt“ dieses Verfahrens überhaupt was bringt.

  2. 2
    Waschi says:

    @Andreas: ganz ruhig bleiben. Dass @crh in der Sache Wind macht, ist klar. Nur sollte man nicht gleich den Untergang des Abendlandes herbeifantasieren, denn:

    1. Im Moment geht es nur um die Frage, ob das Gericht die Anklage überhaupt zur Hauptverhandlung zulässt. Nicht um Schuld oder Unschuld.

    2. Es ist nunmal in erster Linie Sache des Pflichtverteidigers, sich in die Anklage einzuarbeiten. Dafür ist dieser (unter anderem) da.

    3. Sobald jemand inhaftiert ist, gelten Fristen, und die sind a) recht knapp und werden b) streng kontrolliert. Und zwar im Interesse des Inhaftierten.

    Übrigens: am 14.11. hat der Anwalt seinen Mandanten in Haft besucht. Am 29.11. erfährt der vorsitzende Richter von dem Problem mit der Anklageschrift, und zwar durch den Mandanten. Da frage ich mich: was hat eigentlich der Anwalt in der Zeit vom 14. bis 29. 11. gemacht?

  3. 3
    Flo says:

    @Waschi, der Anwalt wird sicher nicht nur diesen einen Mandanten haben.
    Dann ist offen wann der Anwalt die Anklageschrift bekommen hat.
    Und selbst wenn der Anwalt die schon am 14.11 kannte, bei dem Umfang dürfte es unmöglich sein die komplette Anklage in einem einzigem Termin mit dem Mandanten durchzuarbeiten.

  4. 4
    RA Ullrich says:

    Zu 1: Natürlich geht es um Schuld oder Unschuld, die Frage, ob das Gericht die Hauptverhandlung zulässt, beurteilt sich nämlich danach, ob eine Verurteilung in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich erscheint. Auch wenn diese Prüfung von vielen Gerichten leider nicht ernst genommen wird, ist dennoch zwingend dem Angeklagten effektives rechtliches Gehör zu gewähren, bevor er in einer umfangreichen Hauptverhandlung in die Öffentlichkeit gezerrt wird. Gerade bei Umfangsverfahren ist vorherige Aktenkenntnis auch deshalb wichtig, weil der Angeklagte nur so abwägen kann, ob es in Anbetracht der Aktenlage sinnvoll ist, die Sache durch ein (Teil-)Geständnis abzukürzen und/oder über einen Deal zu verhandeln.

    Zu 2: Unsinn! Ich kann und darf als Verteidiger zum Tatvorwurf nicht inhaltlich Stellung nehmen, ohne hierüber zuvor mit einem vollständig informierten Mandaten Einvernehmen erzielt zu haben (Es sei denn, der Mandant will nicht mit mir reden und sagt mir „Machen Sie was sie denken“) Zwar ist es als Verteidiger natürlich auch meine Aufgabe, dem Angeklagten beim Verstehen der Akte zu helfen, die wesentlichen Punkte herauszuarbeiten und die richtigen Fragen an ihn zu stellen, aber in einem Umfangsverfahren, in dem allein die Anklage 700 Seiten hat, kann eine seriöse Verteidigung sich nicht darauf beschränken, dem Angeklagten mal eben in einer Stunde grob lückenhaft mündlich zusammenzufassen worum es überhaupt geht und allein mit seiner Reaktion hierauf zu arbeiten.

    zu 3: Die einzige feste Frist, die da gilt, ist die Haftprüfung durch das OLG, alle anderen Fristen setzt das Gericht nach eigenem Ermessen, und das ist fehlerhaft ausgeübt, wenn die Frist für den Angeklagten offensichtlich nicht ausreicht, seine Rechte effektiv wahrzunehmen.

    Zu Ihrem Übrigens: Es war hier vom Haftprüfungstermin die Rede, den kriegt man oft nicht von heute auf Morgen und für eine förmliche Beschwerde gegen die Brandschutzanordnungen der JVA ist der Richter des Hauptverfahrens nicht zuständig (das gehört vor die Kammer für Strafvollzugssachen). Es mag allerdings durchaus sein, dass hier eine informelle Vorabinformation etwas gebracht hätte, möglicherweise wurde taktiert, in der Hoffnung dass der Richter eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls auch zur Lösung des Papierproblems in Betracht zieht.

  5. 5
    HugoHabicht says:

    Da der Eröffnungsbeschluss unanfechtbar ist, effektive Rechtsmittel also nicht in Sicht sind, beißt der Verteidiger in die hoffentlich stabile und gewiss bißerfahrene Tischkante. Wenn er Stimmung machen will, kann er es natürlich auch schonmal mit dem ersten Ablehungsantrag versuchen.

    Das Zwischenverfahren existiert eigentlich nur, damit man Examenskandidaten in der mündlichen Prüfung fragen kann, was ein „Angeschuldigter“ ist (das deutsche Strafverfahren kennt Beschuldigte, Angeschuldigte und Angeklagte).

    Dass in einer Haftsache die Anklage so dünn ist, dass sie nicht zugelassen wird, ist dagegen kaum vorstellbar.

  6. 6
    Waschi says:

    @RA Ullrich: das ist jetzt klassischer Nebelkerzenweitwurf. Einem Bauplaner werden Sie doch auch nicht sagen, er habe ja nur einen einzigen Fertigstellungstermin, da solle er sich mit den Zwischenterminen nicht so haben, oder?

    Und taktieren ist ja völlig ok. Nur kann man halt schlecht zuerst 2 Wochen stillhalten und dann auf einmal so tun, als sei jeder Tag, an dem der Angeschuldigte nicht in seiner Anklage lesen durfte, schreiendes Unrecht.

    Und nur zur Klarstellung: natürlich muss man dem Angeklagten die Anklage vorab geben, und natürlich war es Unsinn von der JVA, sie ihm vorzuenthalten. Aber nachdem das jetzt geklärt ist, geht’s ja nur noch darum, wie schnell das Verfahren jetzt weitergehen darf. Und dass der Richter dabei auch so langweilige Dinge wie Haftfristen, Schwierigkeiten bei Terminabsprachen und das Beschleunigungsgebot in Haftsachen im Blick hat, ist durchaus ok. Finde ich

  7. 7
    Berliner says:

    Man stelle sich nur vor, es handele sich um
    eine Umfangsache mit 126 angeklagten Einzeltaten auf 850 Seiten Anklage. Das Gericht terminiert erst in 8 Wochen, weil auch der inhaftierte Angeschuldigte doch Zeit haben soll, sich an jede der 126 Vorfälle zu erinnern und dem Verteidiger hierzu Stellung zu nehmen. Natürlich sei es aberwitzig zu glauben, dass in Haft mehr als 100 Seiten je Woche (knapp 15 Seiten täglich) durchgearbeitet werden können, ist ja schließlich kein Roman und Weihnachten müsse auch in Haft eine Zeit der Ruhe und Besinnlichkeit sein.

    Blogbeitrag: Gericht brummt Gluffke extra Monate auf, damit er Weihnachten hinter Gardinen verbringen kann.

    Als ob Gluffke nicht mehr als 15 Seiten am Tag lesen könne, sind in Umfangssachen ohnehin immer wieder dieselben Textbausteine zu gleichen Rechtsfragen und überhaupt, genügt es nicht, wenn der Verteidiger binnen Wochenfrist die Anklage versteht? Scheinbar ist der Richter selbst überlastet im abgesoffenen Buchstabendezernat und kommt nicht zum Lesen. Skandal!

  8. 8
    Silke says:

    Oh – die Frist läuft gleich ab….
    mein Vorschlag:1. Info an Amnesty International und Aufforderung zur Unterstützung
    2. Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht zur Gewährung eff. Rechtsschutzes, faires Verfahren, rechtliches Gehör plus Art. 1 GG

  9. 9
    Maik says:

    Deal anbieten. 2 Jahre auf Bewährung. Sonst der überlasteten Kammer mit umfassender Beweisaufnahme und Revision „drohen“. Eigentlich so wie immer…

  10. 10
    Sunny says:

    Das ist doch Unfug, die Akte steht nicht in erster Linie fuer den Verteidiger bereit.
    Die Akte hat Multifunktion und eine dieser Funktionen ist halt eben dass der Angeklagte lesen kann weswegen er angeklagt ist.

  11. 11
  12. 12
    Nikolas says:

    HugoHabicht: Mein Bekannter war knapp 2 Jahre in U-Haft. Seine Anklage wurde nicht zugelassen. Das OLG hat es bestätigt.
    Ich hatte auch schon drei Anklagen die nicht zugelassen wurden. Meine Anhörungsrüge beim BGH ging auch durch.
    Wer nicht kämpft hat schon verloren :-)