„Wer auffährt, hat immer Schuld!“

Ob das denn so richtig sei, möchte ein Leser des Blogs von uns wissen und ob wir mal was dazu schreiben könnten. Machen wir natürlich gern.

Die Auffassung ist ebenso verbreitet, wie falsch. Gegen einen Auffahrenden spricht lediglich der sogenannte Beweis des ersten Anscheins dafür, dass er entweder nicht den nötigen Sicherheitsabstand eingehalten hat, in der konkreten Situation zu schnell war oder es einfach an der notwendigen Aufmerksamkeit hat fehlen lassen.

Nach Verkehrsunfällen geht es darum, wer wem welchen Schaden zu ersetzen hat. Zahlen muss derjenige, der den Unfall verschuldet hat, bzw. dessen Kfz-Haftpflichtversicherung. Manchmal haben beide Beteiligte nicht aufpasst, dann wird nach dem Grad des Verschuldens eine Quote gebildet. Dabei muss immer derjenige, der seinen Schaden ersetzt verlangt, das Verschulden des anderen nachweisen.

Lediglich bei bestimmten Konstellationen, wie z.B. einem Auffahrunfall, wird das Verschulden des Unfallgegners vermutet. Der Geschädigte hat es durch die Umkehr der sonst üblichen Beweislast einfacher, Schadenersatz zu erhalten.

Ist der Auffahrende der Meinung, er hat den Unfall nicht verschuldet, muss er den Anscheinsbeweis widerlegen. Vielfach wird dann behauptet, der Vorausfahrende habe abrupt und ohne erkennbaren Grund gebremst. Ohne entsprechende Nachweise, z.B. Zeugen, reicht das aber nicht aus, um sich der Haftung zu entziehen.

In einem Klageverfahren vor dem Amtsgericht Freiburg z.B. hatte der Auffahrende Glück, dass der Vorausfahrende so ehrlich war und zugab, dass er die Kupplung mit der Bremse verwechselt hatte. Es handelte sich damit nicht um einen typischer Auffahrunfall, weil man mit so einer grundlosen Vollbremsung des Vordermanns nicht rechnen muss (AG Freiburg, Urteil vom 19.07.2007, Az: 55 C 958/07).

Lediglich 40 % seines Schadens bekam ein Rollerfahrer beim Amtsgericht Köln ersetzt, der auf ein plötzlich haltendes Taxi auffuhr. Fahrgäste am Fahrbahnrand aufzunehmen, stellt keinen ausreichenden Grund für ein Abbremsen dar. Aber auch der Rollerfahrer hätte damit rechnen müssen, dass so ein Taxi plötzlich bremst und seine Fahrweise darauf einrichten müssen (AG Köln, Urteil vom 08.05.2008, Az: 264 C 408/07).

Ein Taxifahrer, der sich in die Fahrspur des dann Auffahrenden gedrängelt hatte, ging beim Landgericht Berlin leer aus. Der Anscheinsbeweis griff nicht ein, da kein typischer Auffahrunfall vorlag und der Auffahrende nicht damit rechnen musste, dass jemand in seinen Sicherheitsabstand hinein fährt und dann bremst. Die dagegen eingelegte Berufung wies das Kammergericht zurück (KG, Beschluss vom 10.09.2008, Az: 12 U 239/07).

Die Entscheidungen zeigen zum einen deutlich, dass ein wirklich atypischer Auffahrunfall vorliegen muss und zum anderen, dass der Auffahrende die Beweislast dafür trägt. Nicht immer hat man das Glück, dass der Vorausfahrende das plötzliche Abbremsen auch einräumt oder Zeugen den Unfall beobachtet haben, so dass der Auffahrende in aller Regel für den Schaden gerade zu stehen hat.

RA Thomas Kümmerle

Dieser Beitrag wurde unter Kanzlei Hoenig Info, Unfallrecht, Verkehrsunfall, Zivilrecht veröffentlicht und mit den Begriffen , , verschlagwortet.

17 Antworten auf „Wer auffährt, hat immer Schuld!“

  1. 1
    cepag says:

    Wenn man aus dem „Wer auffährt, hat immer Schuld“ leicht modifiziert in ein „Wer auffährt, hat MEISTENS Schuld“, würde ist es als zutreffend unterschreiben.

    So wie die alte Merkregel aus dem römischen Kindschaftsrecht: „Mater semper certa est; pater semper incertus ist“

  2. 2
    Stefan says:

    Wie sieht es denn aus, wenn einem RÜCKWÄRTS vorn rein gefahren wird? An einer Ampel z.B., Verkehr steht – mir passiert, und ich hatte Glück, dass der rückwärts fahrende nicht einfach behauptet hat, ich sei ihm reingefahren..

  3. 3
    Dominic says:

    Vielen Dank für die Auffassung meiner E-Mail.

    Der Beitrag bestätigt mich in meiner Meinung und ich habe nun eine „offizielle“ Quelle, um darauf zu verlinken. Vielen Dank!

  4. 4
    Mirko says:

    Selbst im Freiburger Fall sollte man mit einem Teil der Schuld rechnen. Ein für den Nachfolgenden nicht erkennbar berechtigtes Bremsen (Kind) hätte zum selben Schaden, nur anderer Verteilung geführt und man kann auch annehmen, dass der Nachfolgende zu schnell war.

    Dass jemand in meine Spur kommt, scheint DIE Ausnahme zu sein, da hier die Annahme, der Abstand wäre zu klein gewesen, nicht gelten kann.

    Ein Beispiel dieser Kategorie hier:
    http://www.lawblog.de/index.php/archives/2012/10/27/wer-sich-bewegt-hat-verloren/

    Wenn man von einem Auffahrenden in den Vordermann geschoben wird, sollte auch eine Ausnahme sein. Oder wahlweise, kein eigenes Auffahren.

  5. 5
    alter Jakob says:

    @Stefan: Grundsätzlich ist das ein Problem, solange sich die Rückwärtsfahrt nicht irgendwie belegen lässt. Wenn bspw. der Rückwärtsfahrende gebremst hat, dann geht das vielleicht mit einem Vergleich der Schadensbilder (der Rückwärtsbremsende/-beschleunigende nickt ein (nach hinten/vorne), was ein anderes Schadensbild ergibt, als wenn der Vorwärtsfahrende bremst (oder nicht bremst). Reifenspuren können evtl. auch ein Beleg für die Relativbewegungen der Fahrzeuge sein. Wenn’s keine solchen Belege und auch keine Zeugen gibt, dann hat man wohl die Arschkarte.

  6. 6
    Felix Bartholdy says:

    Man glaubt es nicht: Da schreibt jemand extra einen Blogbeitrag, um einen juristischen Mythos zu widerlegen, um schreibt dann seinerseits Dinge, die mehr falsch als richtig sind.

    Es ist einfach falsch, dass ein Anscheinsbeweis die „Beweislast umkehrt“, „widerlegt“ werden müsste oder zu einer „Vermutung des Verschuldens“ gegen den Auffahrenden führt.

    Richtig ist (wie selbst Wikipedia weiß): Der Anscheinsbeweis muss lediglich „erschüttert“ werden; hierfür reicht es, dass Tatsachen vorgetragen und bewiesen werden, die die Möglichkeit (!) eines anderen Geschehensablaufs im Einzelfall begründen. Insbesondere wird kein Beweis des Gegenteils verlangt.

    • Lassen Sie mich raten: Sind Jurastudent. Oder Studienrat. Nicht? crh
  7. 7
    Netzstachel says:

    Akzeptieren Gerichte aufgezeichnete Videos der Fahrt? Wird so etwas als Beweismittel zugelassen?

    Es gibt sehr günstig sogenannte Carcams oder Drivecams, welche bei Fahrtantritt anfangen aufzuzeichnen, zu kaufen.

    So etwas z.B. meine ich:

    http://www.ozhobbies.eu/gadgets/vollautomatische-hd-fahrkamera-drivecam-carcam-mit-tft/

    Damit könnte man zumindest beweisen dass die Bremslichter des Vordermanns plötzlich aufgeleuchtet haben. Ich weis nur nicht wie gut man auf einem solchen Video die Verzögerung erkennen kann.

    Ausserdem stellt sich dann die Frage wie lange es dauert bis sich die ersten Ordnungshüter beschweren dass man gegen Persönlichkeitsrechte oder die informationelle Selbstbestimmung von Personen verstößt.

    Panoramaaufnahmen sind ja kein Problem. Ob das Video einer solchen „Drivecam“ als solche gewertet werden würde?

  8. 8
    doppelfish says:

    Ich hatte bereits die mittelmässig freudige Gelegenheit, in einen Kombi einzusteigen – unfreiwillig, durch die zunächst noch geschlossene Heckscheibe.

    Der PKW hatte mich überholt, war knapp vor mir rechts ran gezogen, und hatte dann scharf gebremst. Meine Bremsen – Shimano 105er mit CoolStop-Gummis auf Alu-Felge – waren gut, aber eben nicht gut genug.

    Der Mensch von der StA, der mich deswegen kontaktierte, hörte sich die Geschichte an und meinte nur: „Ja, so dachte ich mir das schon.“ Damit war für mich die Geschichte aus der Welt. Die Narben habe ich heute noch.

  9. 9
    Kand.in.Sky says:

    helfen bei Fällen wie von #2/Stefan dargelegt im Auto montierte Kameras? D.h., „dürfen“ die AUfnahmen ausgertet werden?

  10. 10
    anonymuß says:

    Als Referendar bekam ich am AG Mitte eine Akte vorgelegt, bei der die Frage im Raum stand, ob der vom Auffahrunfall Geschädigte plötzlich und ohne zwingenden Grund bremste, als ihm während der Fahrt von einem anderen Verkehrsteilnehmer ein Hamburger von Burger King an die Seitenscheibe geworfen wurde und dieser daraufhin erschrak. Zwei Juristen, drei Meinungen!

  11. 11
    Felix Bartholdy says:

    @ crh: Ja, ich bin Jurastudent.

    Darf ich Ihre Anmerkung dahin verstehen, dass solche Sachen wie der Unterschied zwischen Beweislastumkehr und Anscheinsbeweis für Anwälte in einer Verkehrsrechtskanzlei Dinge sind, für die man sich nur im Studium, hinterher aber nicht mehr interessieren sollte?

    Ich dachte immer, ein gewisses Mindestmaß an Rechtskenntnissen sei auch bei der anwaltlichen Tätigkeit ganz hilfreich. Dann stimmt das also gar nicht, oder?

    Sagen Sie das eigentlich auch Ihren Mandanten, oder lassen Sie die im gegenteiligen Glauben?

  12. 12
    ra kuemmerle says:

    Also wo er Recht hat, da hat er Recht. Es genügt den Anscheinsbeweis für einen typischen Geschehensablauf zu erschüttern, indem Tatsachen vorgetragen und bewiesen werden, die die Möglichkeit eines anderen (atypischen) Geschehensablaufs im Einzelfall begründen. Aber mal so von Praktiker zu Dogmatiker, was habe ich damit gewonnen? Wenn ich Schadenersatz von der Gegenseite haben will muss ich dieser immer noch ein Verschulden nachweisen (Betriebsgefahr mals außen vor). Also ganz undogmatisch ausgedrückt, ich muss das Gegenteil beweisen.

  13. 13
    Affe says:

    Der Anscheinsbeweis wird (bei Verkehrsunfällen) nur durch bewiesene Tatsachen erschüttert. Ständige Rspr. … .

  14. 14
    anonymuß says:

    Da hat der werte Felix sich aber gut in das Thema eingelesen. ZPO-Seminar belegt gehabt? Konzentrier dich mal lieber auf den für das erste Examen relevanten Stoff, denn Wissen über Beweisproblematiken bringt dir keine 4 Punkte. :-)

  15. 15
    Andreas says:

    Bevor ich in die Dogmatik-Diskussion einsteige: Es ist häufig nicht gerade leicht die Rechtslage für Nicht-Juristen korrekt darzustellen und dabei juristisch auch noch penibel korrekt zu bleiben. Insofern stellt der Beitrag die Rechtslage für Laien ganz gut dar.

    @ ra kuemmerle
    Man sollte die Feinheiten auch in der Praxis nicht außer Acht lassen. Es macht schon einen Unterschied. Wenn man nämlich den Anscheinsbeweis erschüttern kann ohne dass einem Unfallbeteiligten die überwiegende Betriebsgefahr (oder gar Verschulden) nachweisbar ist, dann hat jede Seite die Hälfte zu tragen. Für einen nicht Vollkasko Versicherten macht es aber einen Unterschied, ob er die Hälfte seines Schadens ersetzt bekommt oder nicht.

    Außerdem: Ein Prozess wird häufig nicht (nur) wegen des tatsächlichen Erfolgspotentials gewonnen, sondern auch und gerade deswegen, weil ein RA auf die Details achtet und dem Gericht und der Gegenseite dies zu verstehen gibt. Bei einem RA, der sich mit Rechts- und Sachlage perfekt auskennt, wird ein Richter vorsichtiger sein, mit abstrusen Rechtsansichten und geschürten Ängsten einen ungünstigen Vergleich zu erpressen. Das sollte man nicht unterschätzen.

  16. 16

    […] Ärgerlich für beide – doch es gibt auch starken Trost für den Vordermann: Wer auffährt, zahlt die Rechnung – basta! Doch die Realität ist etwas anders wie RA Thomas Kümmerle, Berlin, in seinem Artikel aufzeigt. ? Klick! […]

  17. 17
    piracetam says:

    In einem Klageverfahren vor dem Amtsgericht Freiburg z.B. hatte der Auffahrende Glück, dass der Vorausfahrende so ehrlich war und zugab, dass er die Kupplung mit der Bremse verwechselt hatte. Es handelte sich damit nicht um einen typischer Auffahrunfall, weil man mit so einer grundlosen Vollbremsung des Vordermanns nicht rechnen muss (AG Freiburg, Urteil vom 19.07.2007, Az: 55 C 958/07 ).