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Überraschung

Wann darf (nicht) überholt werden?

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat am 22.2.2000 folgenden Fall mit einem in mehrfacher Hinsicht überraschenden Ergebnis entschieden (NZV 2000, 291 f). Es ging um einen Verkehrsunfall im Zusammenhang mit einem Überholmanöver.

Graf Gottfried von Gluffke tuckert am späten Abend auf seinem Kleinkraftrad mit etwa 65 km/h auf einer kleinen Landstraße vor sich hin. Die beginnende Altersweisheit hindert Gluffke daran, das Fahrlicht einzuschalten; er meint, trotz Dunkelheit über den erforderlichen Durchblick zu verfügen.

Auch Bulli Bullmann ist auf dem Weg nach Hause – in entgegen gesetzter Richtung. Vor ihm fährt Mütterchen Mü mit vorsichtigen 50 km/h. Bullmann ist es leid, sich das Heck des C-Kadett von Mü anzuschauen, und setzt zum Überholen an. Ebenso wie Gluffke meint er, über genügend Weitsicht zu verfügen; ihm reicht das Abblendlicht seiner E-Klasse für die gefahrenen 80 km/h.

Als er etwa in Höhe des Kadett auf der linken Fahrspur war, taucht überraschend Gluffke auf seiner Zwiebacksäge im Scheinwerferkegel vor Bullmanns Nobelkarosse auf. Die Zeit reichte nicht mehr, um abzubremsen oder dem Gluffke auszuweichen.

Gluffke überlebt und verlangt Schadensersatz sowie Schmerzensgeld von Bullmann und dessen Versicherer, stößt dabei jedoch auf heftige Gegenwehr.

Das zuerst angerufene Landgericht, später auch das Oberlandesgericht weisen seine Klage und die Berufung in voller Höhe ab. Schließlich habe Bullmann den Gluffke gar nicht sehen können, als er unbeleuchtet im Dunkeln seiner Wege fuhr.

Gluffke lies nicht locker und zog vor den BGH. Die hohen Richter schauten erst einmal ins Gesetzbuch und fanden dort § 5 Abs. 2 Straßenverkehrsordnung (StVO): „Überholen darf nur, wer übersehen kann, daß während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist.“ und gleich noch eine passende Norm, den § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO : „Er darf nur so schnell fahren, daß er innerhalb der übersehbaren Strecke halten kann.“

Die Bundesrichter zogen daraus messerscharf den Schluß, daß Bullmann sich hätte vergewissern müssen, daß ihm der Überholweg hindernisfrei zur Verfügung stehe. Hindernis sei dabei jedes Hindernis, auch ein unbeleuchtes. Der Pflichtverstoß Gluffkes ändere nichts an dem Erfordernis des Überblicks.
Dieses Gebot habe Bullmann jedoch verletzt, als er mit 80 km/h und nur mit Abblendlicht zum Überholen ansetzte. Er konnte unter diesen Umständen nicht übersehen, ob er insgesamt freie Bahn hatte.

Im übrigen sei Bullmann zu schnell gefahren: Schon das Berufungsgericht habe festgestellt, Bullmann hätte nur 55 km/h fahren dürfen, um auf ein etwaiges Hindernis rechtzeitig reagieren zu können. Mit dieser geringen Geschwindigkeit hätte er allerdings die 50 km/h schnelle Mü nicht überholen dürfen.
Der BGH merkt dazu noch an, daß Bullmann zu Beginn des Überholvorgangs kurz das Fernlicht hätte anschalten müssen, um sich einen Überblick über den benötigten Überholweg zu verschaffen. Dann hätte er den Gluffke schon gesehen.

Die Idee mit der Lichthupe vor einem Überholvorgang ist nicht neu; § 5 Abs. 5 StVO gestattet – außerhalb geschlossener Ortschaften – die Ankündigung des Überholvorgangs durch kurze „Schall- oder Leuchtzeichen“.

Die knackige Entscheidung des BGH erscheint nicht unrichtig, wenn man berücksichtigt, daß das Überholen eines der unfallträchtigsten Manöver im Straßenverkehr überhaupt ist. Aus diesem Grunde muß der Überholer eben zweihundertprozentig sicherstellen, daß er noch nicht einmal eine Behinderung, erst Recht keine Gefährdung verursacht.

Kann man vor einem Überholvorgang nicht überblicken, was alles auf einen zukommt, muß man es eben lassen. Eigentlich ganz einfach, oder?

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